One door opens

von Susanne Scholl über die Ausstellung "Quality Times"

Wir sind es gewohnt, den Bildraum der Malerei als Fiktion zu begreifen. Das, was dargestellt ist – ob gegenständlich oder nicht – gleichen wir mit unserer Realität ab und deuten das Gesehene als Zeichen. Mit der Vorstellung geht auch die traditionelle Aufteilung des Gemäldes in Darstellung und Bildträger einher. Jasmin Schmidt zieht aus dieser Ambivalenz zwischen dem realen Objekt und der über die physischen Gegebenheiten hinausweisenden Darstellung ein grundlegendes Interesse und beweist auf feinsinnige Weise, dass heutzutage Freiheit darüber herrscht, was ein Bild sein kann.

Die Künstlerin baut ihre Bildträger von Grund aus auf, zumeist aus Stoffen wie Loden oder belgischem Leinen. Gerne verarbeitet Jasmin Schmidt die Materialien so, wie sie diese aus einer regionalen Weberei bezieht, mit Bearbeitungsspuren oder Fertigungsfehlern. Oft sind es einzelne Teile, Reststücke, die zu einem Bildkorpus vernäht werden. Dieses Vorgehen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Darstellungen, denn die Struktur des Bildträgers gibt damit eine Ordnung vor. An vielen Stellen blitzt die Begeisterung der Künstlerin für Zahlensysteme durch; an manchen Stellen dürfen diese sogar ihre magische Bedeutung ausspielen: Sieben Stellen nennt Jasmin Schmidt eine geometrische Komposition, die uns sofort an das Personal verschiedener Märchen denken lässt. Dagegen bezeichnet der Titel 120 bis 160 Grad die auf Stoffstücken vorgefundenen Angaben für die Waschtemperaturen des Lodenmaterials. Jasmin Schmidt interpretiert diese Werte als Längengrade und so entsteht aus dem undogmatischen Umgang mit Maßangaben ein räumliches Bild, das komplexe Bedeutungsebenen miteinander verwebt und gedanklich bis zur Aufteilung der Erdkugel reicht.

Ähnlich systematisch nähert sich Jasmin Schmidt in dem Gemälde Machtsymmetrie der Komposition eines kursächsischen Wappens aus dem „Sachsenschatz“, den sie auf einer Reise im Dresdner Residenzschloss entdeckt hat. Hier legt die Künstlerin eine berechnete mathematische Struktur über die gesamte Komposition, um diese rationale symmetrische Ordnung schlussendlich mit Vergnügen zu durchbrechen. Ordnung ist möglich, aber noch schöner ist es, sich ihr zu widersetzen. Man spürt, wie Jasmin Schmidt den eigenen Kontrollverlust gegenüber der Komplexität der Struktur richtiggehend genießt. Die Logik des Bildraums ist erkennbar. Sie wird von ihr jedoch bewusst durchkreuzt. Wenn wir in die Bildräume hineinblicken, nehmen wir kaum merklich Verschiebungen wahr, die sich durch die Überlagerung der darunterliegenden Bildstruktur mit dem darüber liegenden Farbauftrag ergeben.

Raum ohne Schatten ist hinsichtlich der bildnerischen Ordnung ein weiteres faszinierendes Beispiel. Die dargestellte Szenerie, die ihre Quellen in der persischen Miniaturmalerei hat, ist nicht nur ihres Figurenensembles beraubt, sondern auch ihrer Schatten, deren Darstellung im westlichen Kulturkreis für die dreidimensionale Wahrnehmung eines Raumes wesentlich ist. Auf diese Weise führt uns die Künstlerin die kulturelle Prägung von Wahrnehmung vor Augen, die sie damit im gleichen Moment radikal in Frage stellt.

Wenn sich eine Tür öffnet, wie der gleichnamige Titel eines Werkes verheißt, vermag sich bei Jasmin Schmidt auch eine weitere zu öffnen. Denn eine grundlegende Offenheit ist in allen ihren Arbeiten spürbar. Alles ist möglich, sobald der Bildträger seine Form gefunden hat. Sie selbst schafft mit diesem Prozess Bedingungen, auf die sie antwortet. Statt einem kalkulierten Plan zu folgen, nähert sich Jasmin Schmidt ihren Bildern wie eine Suchende, die intuitiv darauf reagiert, was das Material ihr bietet. Manchmal genügen minimale Striche, wie die Übersetzung von Waschtemperaturen in Winkelgrößen, manchmal erfordert das Werk eine dicht besetzte Komposition, wie in dem Gemälde Geteilte Schlacht, das kleinformatige Vorbilder der persischen Miniaturmalerei gebündelt zu einem großformatigen Bild aufbläst. Es handelt sich um ein Bild, das in Format und Thematik die heroischen Darstellungen der europäischen Historienmalerei zitiert, dabei aber jeglicher inhaltlichen Logik abschwört. Zwei sich aufeinander zubewegende Reiterstaffeln werden durch die nachträgliche diagonale Teilung der Bildfläche zu einem unauflösbaren Knäuel, ohne Richtung und ihrer kriegerischen Zielsetzung beraubt. Der Akt des Zerlegens und Neu-Zusammenfügens gehört hier wie der Aufbau der Bildstruktur zu einem essenziellen Bestandteil des künstlerischen Prozesses. Die Künstlerin setzt sich mit diesem Vorgehen zwischen die Logik von Bildfläche und Motiv und wirft die Darstellung gezielt auf gestalterische Fragestellungen zurück.

Wie ein leicht aus dem Takt geratenes Uhrwerk stellen sich im Werk Jasmin Schmidts der Logik und Präzision minimale Abweichungen und unscharfe Linien entgegen. Dreidimensionaler Raum wechselt sich mit flächigen Elementen ab, ohne dass eines von beiden schlüssiger scheint. Die Künstlerin macht auf diese Weise die Gratwanderung zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Disziplin und Spiel, zwischen Müssen und Wollen sichtbar, auf der sie mit ihrem Schaffen balanciert. Letztendlich genießt Jasmin Schmidt die Freiheit, mit ihren Bildern Räume unabhängig von einer realen Logik immer wieder neu entstehen zu lassen und ihnen im künstlerischen Prozess mühelos eine Verwandlung abzuverlangen.