von Carsten Tabel über die Arbeit Favorite Vessels, 2020
Der Architekt ist neu in meinem Töpferkurs. Wir heißen ihn willkommen, und er stellt sich vor. Aus beruflichen Gründen sei er hier, sein Chef schicke ihn, das Verhältnis von Form und Inhalt sei bei ihm in Schieflage geraten, tragisch, existenzgefährdend in seiner Branche. Der Architekt spricht mit Krisenstimme, kippelt mit dem Stuhl.
Die Kursleiterin empfiehlt ihm für den Anfang etwas Einfaches: einen Aschenbecher. Der Architekt ist Nichtraucher, zeigt auf meine Drehscheibe, sagt, er wolle auch so eine Vase machen. Die Kursleiterin seufzt, schneidet eine dicke Scheibe Ton ab, klatscht sie auf die Drehscheibe.
Ich will Tipps geben, aber der Architekt schüttelt den Kopf, murmelt etwas von intuitivem Zugang, matscht ideenlos herum, redet über seinen Job.
Der soziale Wohnungsbau, sein Spezialgebiet, hätte über Jahrzehnte dem Prekariat die Möglichkeit zur Privatsphäre versagt, hätte stigmatisieren wollen, hätte ein Außen geschaffen, dass ein Innen unmöglich machte. Kleider machen Leute, sagt der Architekt, schielt dabei auf mein altes Töpferhemd (selbst trägt er einen Maßanzug, verweigert die ihm angebotene Schürze). Genauso sei es beim sozialen Wohnungsbau.
Aha, sage ich, ein wenig enttäuscht von der bürgerlichen Kausalkette, die er mir als architektonische Vision verkaufen will. Auf seiner Drehscheibe wächst etwas unförmiges vasenähnliches in die Höhe, bevor es unmotiviert in sich zusammenfällt. Nasser Ton spritzt auf seinen Anzug. Ich lache, der Architekt rauft sich die Haare.
Ich nutze die Gelegenheit, um meine Meinung zum Thema mitzuteilen.
Der soziale Wohnungsbau, sage ich, müsse sich am Prinzip Lustschloss orientieren, den gebeutelten Existenzen der Gesellschaft einen funktionslosen Rückzugsraum bieten. Außerdem sei die Beziehung von Form und Inhalt keine soziale, sondern eine ästhetische Frage.
Der Architekt hört gar nicht zu. Schon wieder wächst ein Vasenturm, schlingert, schlängert, kracht zusammen. Er tritt einen Stuhl um. Die Kursleiterin schimpft, der Architekt entschuldigt sich und geht zurück zu seinem Platz.
Er gibt auf, lässt sich demütig von mir erklären, wie man einen Aschenbecher macht, fragt nach einer Zigarette.
Er sei ein Visionär, unterbricht er mich mit lauter Stimme. Alle hören es. Ich schäme mich für ihn. Ganz und gar unvisionär seien jedoch die Behörden, vollkommen blind für die Sprungschanze zur sozialen Evolution, die er den unteren Schichten bieten wolle.
Hier ist übrigens Rauchverbot, sage ich.
Der Architekt drückt seine Zigarette in den nassen Ton und schmollt.
Ich frage ihn, ob jemals einer seiner Entwürfe realisiert wurde. Mutlos schüttelt er den Kopf.
Meine Vase ist fertig, und ich bringe sie zum Brennofen. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn aufstehen und völlig derangiert den Raum verlassen. Sein Gehen macht mich traurig. Keines seiner Probleme wurde gelöst.
Die Schieflage in der Beziehung von Form und Inhalt, das hatte ich ihm noch sagen wollen, ist etwas, das uns alle betrifft. Dazu gibt es Künstler*innen, dazu gibt es Architekt*innen: Um Form und Inhalt ein Terrain zu schaffen, auf dem sie sich ergebnisoffen begegnen können, ohne Erwartung, ohne Vorurteil. Nur Form und Inhalt selbst sind fähig, die Schieflage zu korrigieren.
Die Tür geht auf, der Architekt kommt zurück, nimmt den Klumpen Ton von seiner Drehscheibe und steckt ihn in die Jackentasche.
Bis nächstes Mal.
Dann ist er weg und wird nie wiederkommen. Er hätte etwas lernen können.