von Harriet Zilch, 2019
Unser Gedächtnis ist ein Archiv mit unzuverlässigen Mitarbeitern. Nie können wir darauf vertrauen, dass unsere Erinnerungen pflichtbewusst archiviert wurden, und wollen wir sie wieder hervorholen, sind sie bisweilen unauffindbar. Dauerhaft gelöscht oder nur falsch abgelegt? Wir wissen es nicht. In psychologischen und neurowissenschaftlichen Schriften lässt sich jedoch lesen, dass gerade diese Unzuverlässigkeit unseres Gedächtnisses eine wichtige Arbeit leistet. Denn Erinnerung und Vergessen stehen nicht in Konkurrenz, sondern sind Partner in einem dynamischen Prozess: Um eine neue Information speichern zu können, muss eine bestehende Erinnerung verschwinden. Nur dieser Prozess gibt dem Menschen die für ihn so essenzielle Möglichkeit, zu sortieren und zu gewichten, Relevantes zu speichern und Irrelevantes zu vergessen.
Auch eine alte Schulwandkarte kann ein „Gedächtnis“ sein: Flecken und Vergilbungen, Gekritzel und Fingerabdrücke, Eselsohren, Risse und poröse Stellen sind Repräsentanten eines individuellen Alterungsprozesses. Sie thematisieren die Vorstellung, dass auch Gegenstände eine Biografie entwickeln können und als eine Art Speicher die Geschichte ihrer Herstellung, Funktion und Nutzung erzählen. Zahlreiche Gemälde von Jasmin Schmidt sind auf den Rückseiten alter Schulwandkarten aus Nesselstoff entstanden, und stets ist der Bildträger und seine spezifische Beschaffenheit ein elementarer Bestandteil der Werkgenese. Denn die Künstlerin reagiert in Komposition, Struktur, Rhythmus und Farbgebung auf diese Zeitspuren. Das authentische Bruchstück des alltäglichen Lebens, das Objet trouvé, erhält durch die künstlerische Umwidmung eine neue Inhaltlichkeit, Funktion und Wertigkeit. Auch diese Werkgenese lässt sich als dynamischer Prozess beschreiben: Damit ein neues Bild entstehen kann, müssen bestehende Informationen gelöscht oder transformiert werden. Aus einem Dialog zwischen zwei Partnern, den Spezifika des Bildträgers und der malerischen Reaktion auf diese, konstituiert sich ein neues, bildinhärentes System. Stets entwickelt sich dieses in einem ergebnisoffenen und Richtungs¬wechsel zulassenden Prozess. Die Malerei darf „eigenverantwortlich“ wachsen, sich emanzipieren und ein Eigenleben entwickeln.
Diese intuitive und prozessuale Werkgenese ist jedoch nicht nur für die Gemälde relevant, die auf den Rückseiten alter Schulwandkarten entstehen. Viel eher handelt es sich um ein generelles Arbeitsprinzip, denn stets geben alltägliche Beobachtungen und Fundstücke den Anlass für Malerei. Eine individuelle Erinnerung oder Assoziation kann dabei ebenso Inspirationsquelle sein, wie Gegenstände, Fotografien oder Begriffe, die die Künstlerin in einem persönlichen Archiv sammelt: der Slogan „old ideas upset“, einer erholsamen Schlaf versprechenden Matratzenwerbung der Wirtschaftswunderzeit ent¬nommen; ein Jugendbuch aus den 1970er-Jahren, dessen Cover eine sechseckige Wabenstruktur aufweist; ein Lampion aus Papier, der in seiner filigranen Faltung eine komplexe Raumstruktur bildet; eine taillierte Vase aus den 1960er-Jahren mit einem Liniendekor in Schwarz-Weiß; die Fotografie eines Vogelkäfigs, einem alten Magazin entnommen; Tapetenreste mit grafischem 1950er-Jahre-Muster und zeittypischer Farbigkeit; ein kleines Stickbild, welches eine Reiterin auf einem steigenden Pferd zeigt, sowie Vorlagen, die ungarische Stickmuster abbilden. All diese faktischen, motivischen oder erinnerten Archivalien dienen Jasmin Schmidt als Anfänge für ihre Gemälde.
Für einen neugierigen Betrachter ist die Kenntnis über das bildauslösende Fundstück wohl nicht uninteressant. Jedoch ist diese Information letzten Endes irrelevant, da der originäre Impuls im Malereiprozess transponiert und in eine andere Sprache übersetzt wird. Jedes Bild entwickelt sich zu einem neuen Ort mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und werkimmanenter Logik. So wird beispielsweise aus dem kleinen Stickbild, ursprünglich Repräsentant einer bürgerlichen Wohnidylle, und den ungarischen Stickmustervorlagen das großformatige Gemälde „Cavalière“ (2018). Das Motiv der Reiterin zeigt sich nun in 10-facher Vergrößerung ineinander gespiegelt. Es entsteht ein spiegelsymmetrisches Gebilde, das sich aus parallel gesetzter Liniatur aufbaut. An der Schnittachse der beiden gespiegelten Motive, ergeben sich Überlagerungen, so dass aus dem Parallelstich ein Kreuzstich zu werden scheint. Zwar erinnern Farbigkeit und Farbauftrag noch an die blauen Wollfäden des Stickbildes, jedoch ist das ursprüngliche Motiv zu einer abstrahierten Komposition geworden, die vage an ein nicht benennbares Insekt erinnert. Ebenso assoziiert sich ein Rorschach-Test, in dessen Natur es liegt, vieldeutig und individuell interpretierbar zu sein. Der Bildträger wurde bei „Cavalière“ aus fünf Stoffbahnen zusammengenäht, so dass der visuelle Eindruck von „Handarbeit“ auch durch die Materialsprache reflektiert wird.
Das Vernähen disparater Stoffe findet sich vielfach in den Werken von Jasmin Schmidt, und häufig thematisieren die Nahtstellen die komplexe Beziehung zwischen dem Illusionsraum der Malerei und dem realen Raum des Bildträgers. So wurde beispielsweise dem architektonischen Körper des Käfigs im Gemälde „Cage“ (2013) ein Spiegelbild „angenäht“. Der Bildträger ist nicht streng rechtwinklig, sondern beschreibt eine Form, die die Zweiteilung des Bildmotivs betont. Deutlicher wird diese Korrespondenz zwischen dem Zuschnitt des Bildträgers und der Motivik bei dem Gemälde „Treppe“ (2012), dessen Leinwand sich in Stufen aufbaut, oder bei dem Werk „Boomslang“ (2016/17) aus der „Cover“-Werkgruppe, dessen nattergrüne Leinwand in Schuppen aushängt. Immer wieder erforscht die Künstlerin in ihren Werken auch die Material- und Objektqualität unterschiedlicher Stoffe. Leinen, Baumwolle, Seide oder Nessel, teils grundiert, teils bemalt, teils roh belassen, werden auf ihre Substanz, Widerstandskraft und spezifischen Eigenheiten hin geprüft. Die vielfache Prä¬sentation der Bildträger ohne Keilrahmen, lose und an einer unauffälligen Befestigung vor der Wand schwebend, betont ebenso die Materialität und Objekthaftigkeit der Gemälde.
Konsequent weitergedacht werden diese Fragestellungen in aktuellen Arbeiten wie „Monstera“ (2017), „Carapax“ (2017) oder „fig.“ (2018). Für das Blatt einer Monstera deliciosa bzw. einer Feige, sowie für einen Schildkrötenpanzer nutzt Jasmin Schmidt ältere Werke, die sie planvoll zerlegt, um sie im Anschluss zu einer neuen, objekthaften Arbeit aufzubauen. Cuttermesser und Nähmaschine ersetzen in diesem Werkprozess Pinsel und Farbe, denn nicht die Farbe, sondern die Naht, die sich wie eine Zeichnung über den Körper legt, definiert seine Form. Verwandt mit der Naht ist die Faltung: Auch eine gemalte Falte generiert Volumen, definiert Raum und verdichten ihn zugleich, da eine plane Oberfläche durch Um- und Verbiegungen zu einer räumlichen Konstruktion wird. Faltungen gehören zu den wiederkehrenden Motiven in den Gemälden und Zeichnungen der Künstlerin. In den aktuellen objekthaften Arbeiten werden diese Fragen jedoch nicht in der Zweidimensionalität verhandelt, sondern es entstehen volumenhafte Körper, die dem Betrachter konvex und einer organischen Architektur verwandt entgegenwachsen.
Prägend für das Werk von Jasmin Schmidt scheint ein architektonisches, geometrisches, symmetrisches oder auch ornamentales Grundprinzip zu sein. Die Zeichnungen auf Papier, die Gemälde und ebenso die objekthaften Malereien bauen sich zumeist aus Vertikalen, Diagonalen und Horizontalen auf; es finden sich komplexe Strukturen aus Drei- und Vierecken, Rauten und Ellipsen, Quadraten und Kreisen. Die Kompositionen erscheinen als formale Fiktionen der Wirklichkeit, hinter deren zumeist abstrakten Erscheinungsformen vielfältige Bilder auftauchen. Diese sind Welterklärungsmodelle, die mit visuellen Bausteinen aus der Vielfalt heutiger Wirklichkeiten aufgebaut werden. Auch zahlreiche Werktitel – „Fachwerk“ (2013), „Monolith“ (2014), „Quadrat“ (2014) oder „Bossenwerk“ (2014) – assoziieren sich mit Architektur bzw. Räumlichkeit. Kreise und Prismen thematisieren Lichteindrücke, die gerade in den Zeichnungen verstärkt motivisch auftreten. Arbeiten wie „Oktave“ (2014), „Partitur“ (2016) oder „Clavier“ (2018) visualisieren hingegen die Musik bzw. den Klang, und kompositorische Kategorien scheinen auf die bildnerischen Regeln der Malerei übertragen. In aktuellen Gemälden und Zeichnungen zeigt sich auch eine florale Ornamentik beispielsweise in Form von Akanthus-Blättern. Das Ornament ist wohl eine der ältesten Formen nicht-figürlicher Darstellung. Es bewegt sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, zwischen den Gegenpolen organisch und geometrisch, zwischen dekorativer Oberfläche und symbolisch verdichtetem Raum. Das Ornament ist stets ein Balanceakt zwischen Bedeutung und Abstraktion, zwischen Verweis und Hermetik. Gleiches ließe sich auch über die Malerei von Jasmin Schmidt sagen.
Dieses architektonische, geometrische, symmetrische oder auch ornamentale Grundprinzip verdeutlicht: Die malerische Geste, die traditionell die Unmittelbarkeit des Ausdrucks repräsentiert und sich mit der Vorstellung von physischer Kraft und impulsiver Schöpfung verbindet, existiert in der Malerei von Jasmin Schmidt nicht. Ihre Werke stehen nicht für einen eruptiven Ausbruch, sondern für ein leises Spektakel. Sie sind eher das Ergebnis eines langsamen Tastens als eines beherzten Zugreifens, da sie in einem klugen wie komplexen Prozess aus Sehen, Denken und Versuchen entstehen. Jedes Gemälde repräsentiert eine ausufernde, forschende Suche nach dem Bild und eine Reihe subjektiver Entscheidungen, die auf dieser langen Reise getroffen wurden. Dieser langwierige Prozess ist den Arbeiten anzusehen, denn jedes Werk ist in erster Linie Genesis, Zeit, Entwicklung, so dass der Betrachter es nie rein als Objekt erleben wird. So bewahren sich die Werke eine große Offenheit, und vielleicht ist es dieser Aspekt, der es ermöglicht, dass die Bilder von Jasmin Schmidt trotz ihrer Komplexität und strukturierten Logik eine poetische Leichtigkeit bewahren. Sie sind nicht hermetisch, sondern offen und geben dem Betrachter die Möglichkeit mitzudenken, hineinzuschlüpfen und weiterzuspinnen.