push and pull

von Carsten Tabel über die Arbeit push and pull, 2020

Eine leere Schachtel Pralinen. Schwer fällt die Entsorgung des Verpackungsmülls. Zu edel das kleine geprägte Blechdöschen, zu zierlich, zu vollkommen, zu unversehrt die kleinen, an Spitzenkragen aus Renaissance erinnernden Papierkapseln. Die Abstandhalter, die Integritätsbewahrer, die zuvor Berührungen zwischen verschiedenen Pralinentypen verhinderten. Zierliche Begrenzungen, gefaltete Schlagbäume gegen von außen eindringende Geschmacksverirrungen, vollkommen fett- und kalorienfreie Andenken an das Süße, an die Sünde. Erworben wurde die Pralinenschachtel im gefüllten Zustand auf einer Städtereise in einem ganz besonderen Lädchen, in einem besonders schönen Fachwerkhäuschen, in einem Altstadtgässchen, wo ein junges Paar sich einen Traum verwirklicht hat: Eine kleine Manufaktur, Liebe zum Handwerk, fair gehandelte Rohstoffe, sorgsam ausbalancierte Geschmacksnuancen, bewusst ausgesuchte Schürzchen in denen sie Kunden bezirzen und verführen.

 

Hier handelt man mit dem Besonderen, und damit gemeint sind nicht etwa die leckeren Pralinchen, nein, das Besondere selbst ist das Produkt, die handgemachte Süßigkeit nur eine seiner austauschbaren Manifestationen. Gerne erzählen die Geschäftsinhaber*innen von dem vollzogenen biografischen Bruch, von der Abwendung vom entfremdeten Leben und der Hinwendung zur liebevollen Schokoladenfummelei. Der Kunde lauscht und greift zum Geldbeutel.

 

Das Besondere, das war mal eine kulturelle Zuweisung mit Ewigkeitscharakter. Heute aber ist es eine genauso einfach zu behauptende wie zu dekonstruierende Produkteigenschaft, die jede*r Produzent*in einfach so vergeben darf.

 

Das Besondere, das ist das Haus- und Handgemachte, das lange Zeit nur noch als mangelhaftes Vorläufermodell der präzisen, industriellen Produktion betrachtet wurde. Es gilt als Repräsentant einer Liebe zu den Dingen, die lange nicht mehr wusste, wie sie sich ausdrücken, wie sie sichtbar oder schmeckbar werden sollte. Das Besondere ist flüchtig, ein kurz nur anhaltendes Gefühl, also schnell nach Hause rennen und die Pralinchen flugs verspeisen, bevor sich in den eigenen vier Wänden eine gräuliche Gewöhnlichkeitsschicht über die konserverierungstofffreie Schokolade legt. Mit jedem Bissen verschwindet das Besondere im Körper des Menschen, breitet sich aus, hinterlässt Spuren. Es verschwindet, schmilzt langsam auf der Zunge, transformiert sich in Fettablagerung und erhöhtem Blutzuckerspiegel.

 

Die Papierkapsel, in der das Besondere anreiste, liegt Tage nach dem Verzehr noch als Erinnerungsstück auf dem Kaffeetisch. Die Reste des Besonderen  kleben noch an ihr. Doch davon weiß die Kapsel nichts, will es auch nicht wissen. Sie fühlt sich frei, ist den Fängen des Pralinenpärchens im restaurierten Fachwerkhaus entkommen. Unbemannt, alle Pralinen über Bord, macht sie sich auf zu Erkundungsflügen. Second life im Schwebezustand. Öffnet man das Fenster fliegt sie durch den Raum, durch die ganze Wohnung, eine Rentnerin im zweiten Frühling der Funktionslosigkeit. Endlich frei vom Besonderheitsdienst, frei von Zuweisungen. Einst Industrieprodukt verwickelt in die Mechanismen von Kultur und Markt, jetzt endlich frei und selbstbestimmt. Keiner mehr, der an ihr zerrt. Und dann sinkt es langsam, sanft zu Boden, bereit dazu, entsorgt zu werden. Es wird auferstehen, als Bestandteil eines ganz besonderen Buches, als Bäckertüte oder Klopapier. Es sind andere, die das entscheiden.